Pseudo-KompromissRatspräsidentschaft hält an Chatkontrolle fest

Plötzlich könnte alles ganz schnell gehen. Mit einem Kompromissvorschlag will die spanische Ratspräsidentschaft die Chatkontrolle-Kritiker doch noch zu einem Ja bewegen. Doch weiterhin steht im Vorschlag, „dass verschlüsseltes Material in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen sollte“.

Auge schaut aus Handy heraus.
Bei der Chatkontrolle werden anlasslos Inhalte auf den Endgeräten von Menschen überwacht. (Symbolbild) – Public Domain generiert mit Midjourney

Die umstrittene EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, von Kritiker:innen „Chatkontrolle“ genannt, könnte schon kommenden Donnerstag im Ministerrat der EU-Staaten eine entscheidende Schwelle nehmen. Auf einer aktuellen Tagesordnung steht der Punkt für die Runde der Justiz- und Innenminister:innen noch als Platzhalter mit dem Hinweis „möglicherweise“. Zuletzt hatte der Rat eine geplante Abstimmung über seine Position verschoben, weil er die nötige Mehrheit nicht erreicht hätte.

Nun hat die spanische Ratspräsidentschaft einen Vorschlag gemacht, der die kritischen EU-Staaten offenbar zur Zustimmung bewegen soll: Die Art des Materials, nach dem Anbieter suchen müssen, soll vorerst eingeschränkt werden – bis die technischen Möglichkeiten sich geändert haben. Nicht abrücken will die Ratspräsidentschaft hingegen davon, „dass verschlüsseltes Material in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen sollte“.

Digital- und Menschenrechtsorganisationen weltweit warnen seit Monaten, die Pläne würden das Ende der verschlüsselten Kommunikation bedeuten – und die Rechte von Millionen von EU-Bürger:innen verletzen.

Spanien will skeptische Staaten umstimmen

Ob der Vorschlag tatsächlich auf die Tagesordnung des Ministertreffens am 19. und 20. Oktober kommt, entscheidet sich voraussichtlich am morgigen Freitag bei einem Treffen der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (COREPER II). Diese sollen signalisieren, ob ihre Staaten dem Kompromiss zustimmen würden. Nimmt die Präsidentschaft den Punkt daraufhin auf die Tagesordnung, ist zu erwarten, dass sie von einer Mehrheit für ihren Vorschlag ausgeht. Bisher gehörten neben Deutschland etwa Österreich, Schweden, Polen und die Niederlande zu den skeptischen Staaten. Das reicht für eine Sperrminorität, sie benötigt vier Staaten mit zusammen mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung.

Laut Ben Brake, Leiter der Abteilung Digital- und Datenpolitik im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), würde die Bundesregierung einer anlasslosen Kontrolle der Kommunikation weiterhin nicht zustimmen.

Mit der so genannten Chatkontrolle will die EU den sexuellen Missbrauch an Kindern im Netz bekämpfen. Internet-Dienste wie Messenger, E-Mail-Provider oder Social-Media-Plattformen wären dann gesetzlich gezwungen, die privaten Inhalte ihrer Nutzer:innen zu scannen und darin nach Darstellungen von Missbrauch zu suchen. Vor allem die zuständige Innenkommissarin Ylva Johansson bewirbt die Maßnahmen als unabdingbar, um diese Form von Gewalt zu bekämpfen.

„Kompromissvorschlag“ enthält Chatkontrolle

In einem Schreiben vom 10. Oktober, über das Euractiv zuerst berichtete und das Politico veröffentlicht hat, schlägt die Ratspräsidentschaft eine scheinbar abgespeckte Variante vor: Die Chatkontrolle soll zunächst auf bereits bekanntes Missbrauchsmaterial fokussiert werden. In ihrem Vorschlag will die Kommission, dass auch nach neuen, bislang unbekannten Bildern gesucht wird sowie nach so genanntem Grooming – der Kontaktanbahnung von Erwachsenen an Kinder.

Die drei Punkte erfordern unterschiedliche technologische Ansätze. Für bekanntes Material existieren bereits heute Datenbanken mit so genannten Hashwerten von Bildern, mit diesen können Anbieter Treffer abgleichen. Für die Suche nach bisher unbekanntem Bildmaterial müsste eine Technologie zur automatischen Bilderkennung eingesetzt werden. Wie diese etwa zwischen einvernehmlichem Sexting und Darstellungen sexualisierter Gewalt unterscheiden soll, ist ungeklärt. Ebenso komplex ist es, in Texten nach Kontaktanbahnungen zu suchen. Fachleute weisen auf die hohen Fehlerraten bei den derzeit existierenden Methoden hin.

Die Verpflichtung, nach solchem Material zu suchen, wäre also zunächst aufgeschoben – bis die Kommission zu dem Schluss kommt, dass die Technologien ausreichend zuverlässig arbeiten. Wann es soweit ist, soll das neu zu gründende EU-Zentrum befinden, das die Einführung der Maßnahmen begleiten soll. Einen solchen vermeintlichen Aufschiebe-Kompromiss gab es vor kurzem bereits in Großbritannien. Auch dort sind im Online Safety Bill ähnliche Regelungen enthalten, die vorerst ausgesetzt sind, bis es die technischen Möglichkeiten gibt.

Überwachungsproblem bleibt

Der neuerliche Vorschlag ändert damit nichts an dem grundsätzlichen Problem: Dass Anbieter auf Anordnung gezwungen wären, verschlüsselte und unverschlüsselte Kommunikation ihrer Nutzer:innen unabhängig von einem konkreten Verdacht gegen diese zu durchsuchen. Das ist weiterhin eine Chatkontrolle.

Fachleute gehen davon aus, dass das so genannte Client-Side-Scanning die einzige technische Möglichkeit bleibt, mit der Anbieter die Anordnungen der EU würden umsetzen können. Dabei werden Nachrichten direkt auf dem Gerät gescannt – noch bevor sie verschlüsselt verschickt werden.

Ella Jakubowska vom Dachverband europäischer Digital-Rights-Organisationen EDRi hält den Kompromissvorschlag für eine Nebelkerze. Die wichtigsten grundrechtlichen Probleme blieben bei diesem Vorschlag bestehen. Und auch die anderen umstrittenen Technologien wie die Erkennung von nicht bekanntem Material oder Grooming würden nur verschoben und sogar vorgenehmigt.

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9 Ergänzungen

  1. Es gibt die Strategie erst unrealistisch überzogene Forderungen zu stellen, damit nach dem Kompromiss das übrig bleibt, was man eigentlich verfolgt hat.
    Im Sinne der Strategie hätte es gepasst, wenn sie im Kompromiss die Suche nach unbekanntem Material fallen gelassen hätten.
    Aber nicht mal so weit sind sie kompromissbereit…

    Aus dem Artikel hier ist leider nicht erkennbar, ob es irgendwelche Hürden geben soll, bevor die aufgeschobenen Technologien auch Pflicht werden.
    Ohne feste Hürden wäre es 5 Minuten nach Inkrafttreten der Fall, denn nur mit der Suche nach bekanntem Material bekommt man ja gar keine Trainingsdaten.

  2. Wenn „vorsorglich“ alle Briefe durchsucht und alle Telefongespräche abgehört werden, gibt es per Definition kein Post- und Fernmeldegeheimnis. Was ist für Politiker so schwer daran, dieses Prinzip bei digitaler Kommunikation zu verstehen?

    Wie oft müssen Politikerinnen antidemokratische, faschistische Dinge fordern oder tun, ehe man sie als Antidemokraten und Faschisten bezeichnen darf? Und wie häufig und wie offen müssen wie viele Angehörige von Parteien auf Grundrechte, die verfassungsmäßige Ordnung und höchstrichterliche Urteile pfeifen, damit die Parteien offiziell als antidemokratisch und verfassungsfeindlich eingestuft werden?

    Vonseiten der Politik fällt ja so gern der Satz, das Internet dürfe kein „rechtsfreier Raum“ sein. Da stimme ich zu. Und darum müssen sie in Brüssel endlich begreifen, dass auch im Internet die Grundrechte gelten und die Kriterien für deren Einschränkung dieselben sind wie überall sonst auch: Legitimer Zweck, Eignung, Erfordernis und Verhältnismäßigkeit. Die Chatkontrolle erfüllt ganz objektiv mindestens zwei davon nicht, m. E. nicht ein einziges. Sie wird von Leuten vorangetrieben, die nicht faktenbasiert zu einem Ergebnis gekommen sind, sondern ergebnisbasiert zu einer Herleitung – für sie stand von Anfang an fest, dass sie diese Überwachung um jeden Preis wollen, und dafür haben sie sich eine Begründung konstruiert, die es möglichst leicht macht, Kritiker zu diffamieren und mundtot zu machen.

    Vielleicht würden weniger Menschen an Verschwörungserzählungen glauben, wenn die Regierungen Europas sich nicht gerade wirklich gegen ihre Bevölkerung verschwörten – und das – wie sich ja nun rausgestellt hat –, wie so oft, Hand in Hand mit einer Industrie, die das große Geschäft wittert.

    1. … bedeutet, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis im Bereich der elektronischen Kommunikation via Internet im Rahmen des Art. 10 GG umgesetzt werden muss.

      Dieses „Kommunikations-Geheimnis“ ist durch nichts anderes als E2E-Verschlüsselung zu gewährleisten. Wenn Politik also „im Internet“ keinen rechtsfreien Raum haben will, muss sie für eine qualitativ hochwertige Verschlüsselung sorgen, und nicht gegen Verschlüsselung agitieren oder Bürgerrechte im Digitalen beschneiden.

      Die Frage ist, wie Art. 10 (2) GG technologisch umgesetzt werden kann, ohne Art. 10 (1) auszuhebeln.

  3. Die digitale Privatssphäre soll zum Schutz von Missbrauch massiv eingeschränkt werden, um nur die Symptome zz bekämpfen.

    Wie würde diese Logik in der analogen Welt aussehen? Hier geht es sogar um die Ursache! Randomisierte Hausdurchsuchungen? Kameras an jeder Ecke? Wo ist der Unterschied?

  4. Zitat: >> Laut Ben Brake, Leiter der Abteilung Digital- und Datenpolitik im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), <> Dem Bericht nach sollen 18 Stellen ohne Ausschreibung vergeben worden sein. Dabei seien diese im Bundesbeamtengesetz „grundsätzlich“ vorgeschrieben. Bei fünf dieser Posten soll es sich laut „Bild“-Informationen um Abteilungsleiter-Jobs handeln. Unter anderem soll einen dieser Posten Benjamin Brake erhalten haben. Er leitet die Abteilung „Digital- und Datenpolitik“ und war zuvor Lobbyist beim US-amerikanischen IT-Unternehmen IBM. Er war ebenfalls einmal persönlicher Referent der Ex-FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

    >> würde die Bundesregierung einer anlasslosen Kontrolle der Kommunikation weiterhin nicht zustimmen. <> Staatssekretär Stefan Schnorr >> BM Wissing

    Nun hat es halt die FDP erwischt :)

  5. Ist die Formulierung „Mit der so genannten Chatkontrolle will die EU den sexuellen Missbrauch an Kindern im Netz bekämpfen.“ denn korrekt? Beziehungsweise, wäre es für eine kritisch-distanzierte Haltung aus journalistischer Perspektive nicht angemessener es eher so zu formulieren: „Mit der so genannten Chatkontrolle behauptet die EU den sexuellen Missbrauch an Kindern im Netz bekämpfen zu wollen.“ ?

    Denn die Behauptungen von Politiker:innen, Behörden etc. sind doch nun mal mit ihren Absichten oft nicht deckungsgleich und in diesem Falle dürfte es erwiesenermaßen so sein, dass die EU damit offenkundig gänzlich oder wenigstens auch andere Interessen verfolgt als die von ihr PR-gerecht behaupteten.

  6. Und in dem Entwurf wird sicherlich auf magische Weise sichergestellt, dass alle Chatprogramme das bewerkstelligen müssen, unabhängig von der Nutzerzahl, dem Umsatz, usw. usf. Das wäre doch mal konsequent.

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